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Donnerstag, 07.06.2007
09:00 Uhr

25. Jahrestagung
der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie
– dapo-e.v. –

Vortrag:
Wulf Schröder
»Vom Kampf gegen Krebs zum Leben mit Krebs«
Wilhelm-Kempf-Haus in Wiesbaden-Naurod
Der Vortrag (Text)
MP3 (32 kbps/6.3 MB)
siehe auch »dapo-e.v.«

Donnerstag, 22.03.2007
18:00 Uhr

Wulf Schröder:
Der Feind in meinem Körper
Autorenlesung mit anschließender Diskussion
AOK Sachsen-Anhalt, Zandersaal,
Lüneburger Str. 2, Magdeburg
und
Samstag, 10.03.2007
18:00 Uhr

im Stadthaus Halle (Saale),
Marktplatz

Mittwoch, 05.04.2006
11:00 Uhr

Interview:
Themenwoche Krebs –
Wulf Schröder
in »radio eins rbb«
bei Anja Caspari
Das Interview (Text)
MP3 (32 kbps/1.7 MB)

Samstag, 31.05.2003
11:05 Uhr

Interview:
»Hallo Ü-Wagen« –
Wulf Schröder im WDR 5 bei Julitta Münch
Ist da die Psyche im Spiel? – Krebskrankheiten
Das Interview (Text)
MP3 (32 kbps/2.2 MB)

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25. Jahrestagung der
Deutschen Arbeitsgemeinschaft für psychosoziale Onkologie
– dapo-e.v. –


»Vom Kampf gegen Krebs zum Leben mit Krebs«


Vortrag von Wulf Schröder,
Krebspatient u. Autor des Ratgebers »Der Feind in meinem Körper«


Gliederung:


Begrüßung, Vorstellung & Hintergrund
Zum Thema »Vom Kampf gegen Krebs zum Leben mit Krebs«
Angst & Wut – Leben und Überleben im Krieg
Der Diagnoseschock
Ein erstes Fazit
Die Seele am Tropf
Von der Wahrnehmung der Eigenverantwortlichkeit
Der leidige Mythos vom »Sieg über den Krebs«
Am Abend eines langen Tages (A hard day’s night)

 

Begrüßung, Vorstellung & Hintergrund

Guten Morgen. Mein Name ist Wulf Schröder, ich bin Krebspatient und Autor.

Ich darf – weil dies in einigen Schilderungen, die hier jetzt folgen werden, eventuell von Relevanz ist – hinzufügen: Es handelte sich seinerzeit um einen Hodentumor. Nun, ich habe die Therapie durchlebt wie viele andere Krebspatienten auch, und ich habe u. a. die Hochdosis-Chemotherapie genossen – keine Bestrahlung.
Dies nur als Hintergrundinformation.

Das Buch ist angelegt als Erfahrungsbericht und als Ratgeber für Krebspatienten, für Freunde und Angehörige; es berichtet von meinen Erfahrungen und es berichtet von den Erfahrungen vieler Mitpatienten, die ich im Laufe verschiedener Rehabilitationskuren kennen gelernt habe, und die mir ihre Geschichten erzählt haben.

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Zum Thema »Vom Kampf gegen Krebs zum Leben mit Krebs«

Ich spreche heute morgen zu dem Thema »Vom Kampf gegen Krebs zum Leben mit Krebs«, und ich möchte vorausschicken: ich bin beruflich überhaupt nicht »vom Fach« – und meine Eindrücke, die ich hier mitteile, sind sehr tief vom subjektiven Erleben geprägt: von Angst, Hoffnung und Enttäuschung, von Erleichterung, häufig auch Wut. Einige Schilderungen sind daher möglicherweise etwas temperamentvoll. Ich bin nicht immer gerecht dabei, wie mir mehrfach attestiert wurde, aber ich spreche doch immer aus dem Herzen.

An der einen oder anderen Stelle dieses Vortrages werde ich zur Illustration auf Textstellen aus dem Buch zurückgreifen – insofern wird es ein bisschen literarisch –, und wenn genug Zeit verbleibt, werde ich zum Schluss noch eine kleine Geschichte vorlesen, die mir sehr am Herzen liegt, da diese Geschichte schildert, wie der Zusammenhalt unter Krebspatienten sich gestaltet, und wie wichtig es ist, sich unter Gleichbetroffenen auszutauschen.

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Angst & Wut – Leben und Überleben im Krieg

Den Krebs habe ich überlebt (deshalb stehe ich heute vor Ihnen), und – was für mich seinerzeit weit schwieriger zu bewältigen war – auch die Therapie habe ich überlebt. Den gesamten Kampf gegen den Krebs habe ich sehr intensiv erlebt, ich habe ihn förmlich gelebt, und muss sagen, für mein Empfinden befand ich mich über den Zeitraum von etwa drei Monaten im Krieg. Und dabei nicht allein im Krieg geben den Krebs, sondern ich fand mich – für mich häufig überraschend – auch verstrickt in Scharmützel mit Behandelnden, mit Ärzten – mit Menschen also, die ich ja eigentlich zu den Verbündeten auf meiner Seite hätte zählen sollen und wollen.

Wenn ich nun darüber nachdenke, wie es dazu kam, dass ich während dieser Zeit nicht nur beistehende Freunde gewonnen habe, sondern eben auch: Feinde, vielleicht? – dann überlege ich: wer war ich zu diesem Zeitpunkt und wie war ich zu diesem Zeitpunkt?

Nun, ich war ein Krebspatient, ich war frisch gefangen im oder vom Trauma des Diagnoseschocks, ich war noch berauscht von hilfloser Wut über vorausgegangene Fehldiagnosen, von denen ich meinte, dass sie mir eine Chemotherapie eingebrockt hatten, die ohne diese lange Zeit, die vergangen und verplempert war, gar nicht notwendig gewesen wäre – nach meiner damaligen Auffassung.

Heute würde ich das anders sehen – aber seinerzeit war ich wütend.

Ich war ängstlich, verunsichert, ich war hinsichtlich der Torturen, die da auf mich zukamen, hinsichtlich der medizinischen Details, lediglich sehr oberflächlich informiert – in der Art: Es wird eine Chemotherapie geben, es wird ihnen von Zeit zu Zeit schlecht sein, sie werden Ihre Haare verlieren ...

Was ansonsten während so einer Behandlung auf den Patienten wartet, davon wusste ich nichts – davon wusste ich wirklich nichts. Ich hatte einen großen Respekt davor, da ich natürlich – wie viele andere Menschen auch – schon Bekannte im Leben verloren hatte während ihrer Therapie, und über die man dann hörte: ... tja, der ist während der Chemotherapie gestorben ... Ja, was hört man da? – Wasser in den Lungen, solche Dinge ...

Es war also ein sehr diffuses Bild, das ich damals vor den Augen hatte, und das mir in erster Linie eben Angst vermittelt hat.

Dennoch war ich natürlich bestrebt, ein guter und braver Patient zu sein, und das Ganze so gut es eben ging zu absolvieren.

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Der Diagnoseschock

Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel geben, wie für mich der Einstieg in das Leben als Krebspatient sich gestaltet hat: indem ich nämlich von einem niedergelassenen Facharzt meine Diagnose erhalten habe, und dieser Facharzt hat sich nicht gerade ausgezeichnet durch ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen.

Ich lese mal einen kurzen Absatz vor:

Ein neuer Tag, der ersehnte Freitag. Acht Uhr fünfzehn. Guten Morgen. Bitte zum Labor, Blut und Urin, Sie kennen das ja schon. – Hm-hm. Gleich danach geht es weiter, das ist jetzt neu. Freimachen, hinlegen, der Herr Doktor ist gleich da. Abtasten unter Schmerzen, keine weitere Schilderung. Hosen wieder hoch, T-Shirt hineinstopfen, Gürtel zu, Pullover drüber, Tränen, Tempos, Chefzimmer, setzen.

Dann das Gespräch.

Und, Besserung eingetreten? – Nein, eher das Gegenteil. – Hm-ja, hab’ ich mir schon gedacht. In Ihrem Blut wurde etwas gefunden, das auf den Hoden hinweist. – Was heißt das? – Erhöhte Tumormarker. Blutwerte, die bei bestimmten Symptomen automatisch abgefragt werden und in Ihrem Fall den Verdacht auf eine mögliche Tumorerkrankung zulassen. Vorerst lässt sich darüber noch nichts Genaues sagen. Über Weiteres wird die Klinik befinden. – Welche Klinik wäre das? – Nehmen Sie das St. Bernward Krankenhaus hier vor Ort oder die MHH (Anm.: die Medizinische Hochschule Hannover). Beide verfügen über eine urologische Abteilung. Gehen Sie nicht ins Städtische, die haben dort keine Urologie. Zögern Sie nicht, rufen Sie noch heute an, lassen Sie sich unverzüglich einen Termin geben. Einweisung und vorläufigen Befund bekommen Sie am Empfang. Den Bericht dann bitte an mich. Danke.

Rums! Das will erst mal verdaut sein.

Die Dame an der Aufnahme sprach tröstende Worte: »Sie sollten wissen, so ein Tumor
muss nicht unbedingt bösartig sein. Es gibt unzählige Fälle von gutartigen Tumoren ...«. Lieb gemeint. Ich nickte auch dankbar. Aber ich glaube, ich wusste zu jenem Zeitpunkt schon, dass ich in diesem besonderen Fall mit Gutartigkeiten nicht groß zu rechnen hatte. So wartete ich auf die benötigten Papiere, ließ mir die Rufnummern der in Frage kommenden Kliniken notieren, verabschiedete mich dann höflich und vertrollte mich nach Haus.

Das war mein Erlebnis.

Von einer befreundeten Brustkrebspatientin, die ich später kennen lernte, erfuhr ich eine gekürzte Fassung ihrer eigenen Initiation, die sich ihr in folgender Weise vermittelt hatte:

Zwei Betten, Patientin links, Patientin rechts, eintretende Ärztin. Nach links gewandt: »Ihnen kann ich gratulieren – Sie haben keinen Krebs ...«, nach rechts gewandt: »Anders bei Ihnen ...«

Ein Einzelfall, möglicherweise, aber er ist verbürgt.

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Ein erstes Fazit

Meine noch junge, ohnmächtige Verzweiflung rieb sich auch an der fraglichen Fachkompetenz des erstbehandelnden Mediziners, dessen oberflächliches Statement in Beantwortung meiner Sorge um einen möglichen Tumor mir immer noch im Ohr klang – ich gebe auch hier mal ein kurzes Zitat wieder, denn er sprach:

»Ich kann Sie beruhigen, denn so ein Tumor schmerzt niemals (Das war der Hausarzt: »Ich kann Sie beruhigen, ein Tumor schmerzt niemals«).

Aha. Heerscharen von krebsgeschädigten Morphinisten sind also nur irrtümlich der Medikamentenabhängigkeit anheim gefallen. Da haben Generationen von Drogisten wohl auf das falsche Pferd gesetzt, und die Kranken soll’n sich man nicht so haben ... Und wieder was gelernt. Man muss es halt nur wissen.

Und wie oft hatte er Blut genommen, ohne die wirklich relevanten Werte abzufragen? Egal.

Und ganz egal, was die immer neuen Gesundheitsprogramme dazu sagen, was immer auch die Krankenkassen vorschreiben mögen: Der gemeine Hausarzt scheint mir schlichtweg überfordert, eine jede Krebserkrankung, eine jede untergeordnete Art des Gesamtkomplexes Krebs in ihren vielschichtigen Erscheinungsformen, Anzeichen und Auswirkungen so sicher diagnostizieren zu können wie der erfahrungsbewusste Facharzt. Hierfür gibt es die Spezialisten. Und ich denke, da es sie gibt, sollten wir sie nutzen.

So, das war mein vorläufiges Fazit zu Beginn der Therapie.

Ich möchte jetzt nicht die ganze Zeit ein Jammertal präsentieren... Und dennoch – es sind natürlich viele traumatische Erlebnisse, die der Krebspatient zu bewältigen hat: die Verkraftung der Diagnose, der Einstieg in die Therapie, Bewältigung von OP, Chemo, Strahlenbehandlung – körperliche Verluste, die sich mehren...

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Die Seele am Tropf

Auch dazu möchte ich noch einen kurzen Einblick geben: ich habe es erlebt, wie ich den Anfang der Chemotherapie sehr gut verkraftet habe, und eigentlich von Freude erfüllt war und gedacht habe: gut, wenn das so locker abgeht und wenn das so weitergeht – prima! – vielleicht ist es für mich von Vorteil, dass ich mein ganzes Leben geraucht habe, mich gerne auf Partys herumgetrieben habe – vielleicht bin ich ein bisschen resistenter, was diese Art von Drogen betrifft ...

Und von diesem gemütlichen Pferd kam ich herunter, als zum ersten Mal der Vorlauf, das Kevatril, vergessen wurde, jenes Prophylaktikum, das dazu dient, den Patienten in der Chemotherapie vorab zu stärken, so dass die übelsten Nebenwirkungen etwas gemindert auftreten. Dazu gebe ich auch noch ein kleines Erlebnis preis:

Nachdem in Vorbereitung der Chemotherapie das erste Mal der Vorlauf – das Kevatril – vergessen worden war, hatte mein betreuender Arzt nur den Kopf geschüttelt und etwas von der fraglichen Zuverlässigkeit der Bediensteten gemurmelt. Nachdem dies nun wiederholt geschehen war, eilte er hinaus, um zu richten. Doch was hilft’s? In all dem Durcheinander von offenen und erledigten Aufgaben, zwischen Wechselschichten, Wochenenddienst und Überstunden, da geht halt ab und zu etwas schief. Steht letzten Endes doch nur immer der Chef in der Verantwortung, so hätte im Übrigen auch ich selbst besser aufpassen können – und sollen!

Denn ein paar Tage Erfahrung hätten mir eigentlich schon gereicht, mir Informationen über die Abläufe, wie sie da nun mal sind, zu geben – ich war aber selber noch zu blöd!

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Von der Wahrnehmung der Eigenverantwortlichkeit

Deshalb ist mein Rat an alle Patienten: Die wichtigsten Werkzeuge in dieser Therapie sind Schreibblock und Stift! Man muss sich immer alles aufschreiben, man muss immer sehen, dass man die Kontrolle behält, man muss immer schauen, dass man schleppende Abläufe auf den Weg bringt, und dass man wirklich für sich die Kontrolle behält. Das wird natürlich nicht jeder bewältigen können – wer älter ist, wer in einem seelisch desolaten Zustand ist, der wird dem nicht immer gewachsen sein. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass es eine gute und wertvolle Aufgabe ist, das zu tun: Selbstverantwortung anzunehmen – man hat etwas zu tun – man hat etwas anderes zu tun, als nur den ganzen Tag da zu sitzen und zu gucken, wie das Zeug durch den ZVK oder Port in einen hineinläuft ...

Dies ist eigentlich mein wichtigster Rat. – Und jedes Mal, wenn ich (wie es ja heute noch häufig vorkommt) angesprochen werde von Verwandten, von Bekannten, von Leuten, die sagen: Ich habe da jemanden, der bräuchte mal ein Gespräch, er möchte sich mal aussprechen – du hast das doch auch erlebt – willst du mal mit ihm reden?

Das, was ich diesen Leuten (neben dem Gesprächsangebot) immer mit auf den Weg gebe, ist dies: Ihr wollt selbst etwas tun, etwas mitbringen? – Kauft 'n Block und 'n Stift, das ist das Wichtigste!

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Der leidige Mythos vom »Sieg über den Krebs«

Ich wende mich nun in Richtung der »Beendigung« des Kampfes.
Man hört so häufig die Metapher: »Er hat den Krebs besiegt!«, »Mein Sieg über den Krebs« – nun, ich denke, diese Sichtweise beruht einfach auf einer simplen Fehleinschätzung von Journalisten.

Es gibt keinen Sieg über den Krebs. Es gibt diesen Sieg nicht!

Denn: Wie sieht es denn aus, wenn Sie als remissioniert gelten, aus Ihrer Krankheit kommen? Dann wissen Sie – oder Sie lernen sehr schnell: Sie haben lange Jahre der Nachkontrollen vor sich, und jede einzelne Nachkontrolle wird eine harte nervliche Tortur sein. Das lässt zwar nach mit den Jahren – bei mir ist das jetzt acht, neun Jahre her – aber ich kann mich noch deutlich an meine erste Nachkontrolle erinnern. Ich kann mich erinnern, wie ich da gesessen habe und wirklich überlegt habe: »Meine Güte, was mach' ich jetzt, wenn das wieder los geht, was mache ich, wenn ich jetzt wieder in die Chemotherapie komme?« Das sind wirklich ganz dunkle Wolken, die da am Horizonte hocken und darauf warten, wieder über einen herzufallen ...

Deshalb: Diesen Sieg gibt es nicht! Es gibt eine Mitteilung, wie beispielsweise in dem einen oder anderen oder in meinem Fall: »Sie sind geheilt, Sie sind entlassen«. Geheilt heißt in dem Moment: Wir finden nichts mehr, wir sehen nichts mehr. Die Blutwerte sind in Ordnung, im CT ist nichts zu sehen, im Röntgen ist nichts zu sehen.
Sie sind sauber, Sie sind fertig ...

Für mich kam diese Mitteilung damals sehr überraschend. Ich habe andere Krebspatienten getroffen, die – wie ich – auch große Probleme hatten, mit dieser freudigen Nachricht fertig zu werden. Man würde ja meinen: Super, toll, die ganze Verwandtschaft kommt an und gratuliert ... doch man sitzt da, sehr einsam, und sagt: ja, vorbei, wie? was? – vorbei ..? Hoppla, ich bin hier auf Kampf eingestellt, ich mach' das jetzt schon ein paar Monate ...

In meinem Fall ist es auch recht unglücklich gelaufen, indem es ein sehr junger, unerfahrener Assistenzarzt war, der mir vor wartendem Publikum im Wartebereich des Krankenhauses in einem Nebensatz gesagt hat: »Ah, nee, die nächste Chemotherapie findet nicht mehr statt, Sie können nach Hause gehen ...«. Das war ein Schock. Und, schlimmer als der Schock, kam – mit der Verwunderung darüber, warum ich mich eigentlich nicht freuen konnte – die Befürchtung, so harten seelischen Schaden erlitten zu haben, dass ich nicht mehr normal war ...

Um auch das zu einem Fazit zu führen: Ich glaube, die gesamte Medizin, die Ärzte – gleich welcher Disziplin –, die Behandelnden, die Assistenten – ich denke, sie alle müssen mehr sensibilisiert werden.

Sie müssen geschult werden – wenn sie die Phantasie nicht haben, sich vorzustellen, was in dem Patienten, der da sitzt, und der tief unglücklich ist, lange Zeit tief unglücklich war, der auf der Suche ist, ohne zu finden – nun, wie sie einfach sensibler mit ihm umgehen können.

Das ist mir ein Herzensanliegen.

So.

Zum Abschluss möchte ich noch eine Geschichte vorlesen. Sie handelt vom Zusammenhalt von Krebspatienten unter Krebspatienten.

Ihr Titel lautet: Am Abend eines langen Tages – A hard day’s night.

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Am Abend eines langen Tages (A hard day’s night)

Lange Blicke in halb geleerte Gläser, prüfend, wissend, verstehend, verlegen zuweilen – Zigaretten, selbstgedreht oder aus dem Automaten – es stellt sich dar in diesem Buch, als seien wir Krebsies permanent am Saufen, Rauchen, meinethalben am Kiffen. Grad, als seien die wirklich relevanten Gespräche immer nur am Tresen, Biertisch oder in vom Wein geläuterter Stimmung verlaufen. Idealerweise bei Caipirinha, nicht zu vergessen.

Ein Stillleben, nicht wahr?

Nun – so ganz daneben ist der Eindruck nicht. Wo packt der Krebsie denn die schmerzgestählte Seele aus? Wo findet er Gelegenheit zum Austausch seiner Reichtümer, seiner Defizite und Belastungen?

Gewiss nicht in der Stille der Yoga- oder Tai-Chi-Gruppe, nur selten während der therapeutischen Leibesübungen auf trockenem Terrain oder im Schwimmbad bei der Wassergymnastik. Unsere Rekruten im Kampf gegen die Unbill der Inkontinenz werden die Beckenboden-Gymnastik nutzen, um hilfreiche Tricks und Erfahrungen aufzunehmen und weiterzugeben, Stomaträger die Kompetenz ihrer Lehrmeister und erfahreneren Gefährten für jede denkbare Anleitung auf dem Weg zur Bewältigung von Alltagssituationen.

Doch all das ist nur des Tages Arbeit – bei allem Erfolg und sichtbaren Vorankommen, bei allem – möglichen – Spaß dabei. Nicht mehr als harte Arbeit.

Wenn dann der graue Abend dräut, so zünden fürsorgliche Engel die trostspendenden Lichter der örtlichen Weinstuben und Bierlokale an, Wegweiser in den Schoß der Gemeinschaft.

Hier beschnuppern wir einander, vorsichtig zunächst, suchen Annäherung, die Geborgenheit des Kreises von Gleichgesinnten. Hier finden wir uns zu Gruppen, loten Sympathien aus, versuchen, Gespräche aufzubauen. Wir geben Runden aus, bieten Zigaretten an, prosten einander zu, verlieren uns in weit- wie weltläufigen Betrachtungen und begrüßen jede Übereinstimmung als ein wertvolles Gut, einen Beweis des Echten und Wahren.

Unsere Themen kreisen nicht zwingend um die Krankheit. Zuvorderst wollen wir Spaß und Entspannung. Wir alle haben die dunkle Seite gesehen, wir alle wissen, wie plötzlich und ultimativ der Zauber des Lebens enden kann. Wer als Neuer hinzustößt, sollte angelegentlich einen guten Witz parat haben. Gern geschmacklos, sexistisch gar, doch neu sollte er sein, mit möglichst überraschender Pointe. Ganz wie im richtigen Leben. Auch Behindertenwitze sind willkommen, denn hier gibt es keinen Beifall von der falschen Seite – soviel ist garantiert.

Die Frage nach der genauen Art der Erkrankung wird kaum direkt gestellt. Insbesondere ausscheidungs- oder geschlechtsspezifische Defekte sind oft nicht in solch ausreichendem Maße verarbeitet, dass der Einzelne vor einer größeren Zuhörerschaft frank und frei darüber berichten könnte. Scham regiert, Wissensdrang und Neugierde bescheiden sich brav hinter verstehender Rücksichtnahme. Dies gilt für Frauen wie Männer.

Doch die Nähe der Gemeinschaft wärmt wie ein bullernder Kachelofen im klirrenden Frost des Lebenswinters. Wachsendes Vertrauen durchzieht die Luft wie der Duft schmorender Äpfel im Bratrohr, der Kreis rückt zusammen, die Stimmung wird vertraulich. Ängste schmelzen, Barrieren fallen. Es riecht nach Vanille.

Und irgendwann taut jeder auf. Köpfe werden zusammengesteckt, Zwiegespräche entstehen. Ein Austausch von Vertraulichkeiten, Erfahrungen und Gemeinsamkeiten. Zuweilen kommt ein Dritter, ein Vierter hinzu, trägt bei, was noch zu sagen ist, rundet verbleibende Kanten. Der Rest der Truppe verharrt in Toleranz. Keine Einmischung, keine Eifersüchteleien. Ein jeder sucht und gewährt Zugang im Rahmen seiner Möglichkeiten.

Zeitweise wird es schon schwierig, sich überhaupt nur vorzustellen, dass es tatsächlich Menschen ohne Krebs gibt – dort draußen, in der normalen Welt.

So erfreulicher- wie überraschenderweise aber gehen heutzutage immer mehr Patienten – Männer nicht anders als Frauen – zunehmend offensiv mit der Geschichte ihrer Erkrankung um. Brust- oder Prostata-, Blasen-, Darm-, Gebärmutter- oder Hodenkrebs – früher Tabuthemen par excellence – sind heutzutage auch schon mal Gegenstand der Gespräche am Frühstücks-, Mittags- oder Abendtisch.

Das verspricht Tauwetter.

Nach und nach entwickeln wir eine zunehmende Sensibilität, ein offenes Ohr für die vielfältigen Krankengeschichten und die menschlichen Tragödien, die sich dahinter verbergen, ein neugieriges Interesse an den körperlichen und seelischen Befindlichkeiten unserer Weggefährten. Schicksale werden zu Gemeingut.

Eine Patientin lernte ich erst eine Woche nach ihrem ursprünglich vorgesehenen Antrittstermin kennen; bis dahin war ihr Platz bei Tische leer geblieben. Eigentlich hatte sie zuvor nur noch schnell die obligatorische Nachsorge-Untersuchung in der urologischen Abteilung ihres Krankenhauses abhaken wollen, um sich anschließend in der Kur körperlich und seelisch wieder aufbauen zu lassen. Wie man halt so denkt und plant. Mit dem Untersuchungsergebnis jedoch kam der nächste Schock: Ihr Blasenkrebs war erneut erwacht, die gepackten Koffer konnte sie sich also gleich wieder zurückschicken lassen.

Als ich sie dann – nach ihrem Krankenhausaufenthalt – erstmalig in der Kurklinik antraf, da weinte sie beim Frühstück. Für mich selbst war es seinerzeit die erste Kur, daher war ich noch etwas ungeübt im Umgang mit den Gepflogenheiten des Kurbetriebes selbst wie insbesondere mit seinen Patienten. So saß ich still verschüchtert an ihrer Seite, bemüht, irgendetwas Tröstliches, möglichst wenig Dummes zu sagen, ohne mich dabei über die Maßen aufzudrängen. Wie gut oder schlecht ich das damals auch immer hinbekommen haben mag – es hat mich doch erschüttert: Sie war die erste Krebsie, die ich weinen sah.

Zum Abschied, wenige Wochen später, blickte sie mir ernst in die Augen: »Deine Art Krebs haben sie inzwischen ja ganz gut im Griff, alles Gute für dich. – Was mich betrifft, wer weiß ... Vielleicht trage ich demnächst so ein kleines Handtäschchen an der Seite, mit Katheter durch die Bauchdecke, oder ich lasse mir einfach aus einem Stück Darm eine neue Blase machen. Soll ja ganz phantastisch sein, was die heutzutage so bewerkstelligen ... Na ja, Hauptsache leben.«

Lächelte noch einmal, mit feuchten Wimpern, nahm ihr weniges Restgepäck auf und schritt geübten Ganges durch die Automatiktüren des Portals, die paar Treppen hinunter, zur wartenden, dunklen Limousine. Figurbetonter Rock, attraktive Beine, die Naht der Nylons sauber platziert, vertikal auf der Wade über hohen Pumps. Perfekte Show. Eine strahlende, todunglückliche Frau, so tragisch, und doch einfach schön. Die Dietrich selbst hätte es kaum besser hingekriegt.

Tief berührt hat mich auch die Reaktion einer Mitpatientin, die schon seit Jahren an immer neuen Brusttumoren und Metastasen litt und selbst hier in der Kurklinik fortwährend unter Chemotherapie stand. Wir hatten uns über das Abendbrot hinaus etwas verplaudert, und während unserer Unterhaltung konnte ich beobachten, wie die Finger ihrer rechten Hand beständig sachte über ihr Brustbein strichen. Unvermittelt hielt sie in ihrer Erzählung inne und sah mich starr an:

»Du, ich glaube, hier ist wieder etwas, ich fühle das schon seit ein paar Tagen ...« Kurze Pause, sie senkte den Blick, dann schossen ihr die Tränen in die Augen: »Verdammt, ich hab’ solche Angst!« Diese Worte sprach sie sehr leise, fast zu sich selbst, verzweifelt und leise.

Und wie ich sah, dass die Weinkrämpfe nach ihr griffen, wie sie von Schluchzen geschüttelt wurde, die Hände vors Gesicht geschlagen, da ging ich still um den Tisch herum, nahm sie vorsichtig in den Arm, wiegte sie sanft wie ein Baby, hin und her, hin und her:

»Ruhig, ruhig ...«

Verdammte Scheiße, was weiß die Welt davon, was diese Krankheit den Menschen antut?!

»Du bist ja pervers!«, warf mir ein mäßig verständiger Kommilitone empört vor, nachdem ich mich bei ebendieser Patientin einige Abende später am Biertisch ausführlich über ihre Erfahrungen mit dem venösen Portsystem erkundigt und sie um Zusendung von entsprechenden Informationsbroschüren gebeten hatte. – »Nein, bin ich nicht

Mich interessiert einfach jede Krankheitsgeschichte, gleich welcher Art, rein aus Prinzip. Und lass’ es Neugierde sein, wissenschaftlich begründet oder sonst wie: Ich höre hier, ich höre da, ich lerne vieles, was ich zunächst vielleicht nicht unbedingt für mich, in weiteren Gesprächen aber für andere verwerten kann. Ich kann Informationen sammeln, einander zuordnen, an andere weitertragen, kann auf einschlägige Literatur verweisen, letztendlich Menschen zusammenbringen, deren einer die noch jungen Probleme des anderen bereits durchlebt hat.

Ich habe die Wahl: Ich kann herumjammern, um Mitleid heischen, mich absondern, mich tot stellen meinetwegen – oder ich kann versuchen, offen zu sein, zuzuhören, zu verstehen, zu vermitteln, zu helfen. Oder schlicht zu profitieren: Denn keiner von uns kann wissen, was das Leben im weiteren Verlauf noch an Bonbons für uns bereithält.

Also, liebe Engel: Lasst sie brennen, eure freundlichen Kerzen, die uns Suchende liebevoll zueinander führen. Unsere besten Freundschaften sind noch immer unter nächtlichem Schummerlicht an den schweren Eichentischen der örtlichen Tavernen gewachsen.

Und sie halten seither so einiges aus ...

Danke schön.

Live-Mitschnitt – MP3 (32 kbps/6.3 MB)
siehe auch »dapo-e.v.«
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Krebshandbuch – Wulf Schröder: Der Feind in meinem Körper – Ein Ratgeber für Krebspatienten, Freunde und Angehörige